Möglichst lange Kind sein dürfen
So schnell macht das Saskia Wanner (21) keine:r nach: Über die Hälfte ihres Lebens hat die ausgebildete Fachperson Betreuung Kind (FaBeK) an der SBW Primaria verbracht: 8 Jahre als Kind, 1 Jahr als Praktikantin und 3 Jahre als Lehrling. Seit diesem Sommer macht sie die Vollzeit-BMS, bevor sie Physiotherapie oder Sozialpädagogik studieren will. Ein Werdegangs-Gespräch.
Von Mark Riklin
ST.GALLEN – Tibits, Dienstagnachmittag, 15:30 Uhr. Müde sei sie, sagt Saskia, als sie am Tisch Platz nimmt. Acht Lektionen Unterricht an der Berufsschule habe sie hinter sich. Seit 3 Wochen besucht sie die Vollzeit-BMS und geniesst es, in die Tiefe und Themen auf den Grund gehen zu können. «Ich mag es nicht, wenn komplexe Inhalte zu sehr vereinfacht werden», sagt Saskia. Was gewöhnungsbedürftig ist, ist das lange Sitzen. Eine Kontrasterfahrung für jemanden, der die Hälfte des Lebens an der SBW Primaria verbracht hat, wo bewegtes, spielerisches Lernen gross geschrieben wird.
Kulturschock
Die ersten acht Schuljahre kannte Saskia die öffentliche Schule nur vom Hörensagen. Erst als sie an die St.Galler Maitliflade wechselte, wurde ihr bewusst, dass Schule nicht gleich Schule ist. Der Kulturwechsel war ein Schock, alles fühlte sich anders an: die Distanz zu den Lehrpersonen, der Umfang an Hausaufgaben, der Druck vor Tests. «Ich hatte gar nicht gewusst, dass man vor Tests nervös sein muss, die Nervosität meiner Kolleginnen übertrug sich dann aber schnell auf mich, plötzlich war auch ich mega nervös, wie aus dem Nichts», schmunzelt Saskia. Unvergesslich bleibe die Aufforderung des Klassenlehrers, am zweiten Schultag das Zeugnis abzugeben, als sie als einzige die Arme verschränkt habe, weil sie nichts abzugeben hatte. Ihr Lehrer konnte es kaum fassen, noch nie habe er so etwas in seiner langen Karriere erlebt…
Divisionsbrett
Mit 5 Jahren ist Saskia in die Primaria eingestiegen, dank ihrem älteren Bruder. Im Kindergarten habe man ihn in die Ergotherapie geschickt, weil sein Entwicklungsstand im Ausschneiden (noch) nicht der Norm entsprochen habe. Vieles hat sein Gutes. Die Ergotherapeutin erzählte von einer Schule, an der Kinder ausreichend Zeit bekommen, sich in Ruhe zu entwickeln. So lernte die Familie ein ganz anderes Schulkonzept kennen, und war sofort begeistert, wenig später hatte sie drei Kinder an der Primaria.
In den ersten Jahren habe sie vor allem gespielt: Hüttenbau, Rollenspiele, Bändeli knüpfen, Steine schleifen, Schwertkämpfe austragen. Spielsachen habe sie selten gebraucht, das meiste selbst kreiert, Kulturtechniken beiläufig gelernt. Besonders geblieben sei ihr, als sie in der 3. Klasse das Divisionsbrett entdeckt habe und vom Montessori-Material dermassen fasziniert war, dass sie drei Wochen lang nichts mehr anderes gemacht habee. «Mega grosse Zahlen wurden plötzlich greifbar», ein nachhaltiges Erlebnis.
Ein Privileg
Rollenwechsel. Nach drei Jahren Oberstufe an der Maitliflade und einem Praktikumsjahr auf einem Pferdehof in Santa Maria (Münstertal) kehrt sie an die Primaria zurück. Mit einem neuen Blick und einer neuen Rolle. Als Kind war es, wie es war. Jetzt wollte sie hinterfragen, verstehen, hinter die Kulissen schauen. Früher hatte es ihr einfach gefallen, mit dem Älterwerden und Vergleichen können erkennt sie immer mehr, was für ein Privileg es war, an der Primaria «aufwachsen» zu dürfen. Saskia liebt es, Kinder durch Situationen und Emotionen des Alltags zu begleiten, die gemachten Beobachtungen im Team auszutauschen, Hintergründe zu erfahren, das gleiche Kind aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und dadurch das grosse Ganze immer besser zu verstehen.
Menschenbild
Zurück an der BMS, Psychologieunterricht. Verschiedene Menschenbilder werden miteinander verglichen, das behavioristische mit dem humanistischen usw. Saskia kann die theoretischen Modelle mit ihren Erfahrungen an der Primaria und dem persönlichen Menschenbild abgleichen. «Es ist mir wichtig geworden, Kindern Zeit und Raum zu geben, möglichst lange Kind sein und spielen zu dürfen. Es muss uns bewusst sein, dass es ihre Kindheit ist, die nie mehr wieder kommt und nur schwer nachgeholt werden kann. Statt Kindern schon weiss Gott was aufzubürden, sollten wir darauf vertrauen, dass es gut kommt.» Ein starkes Schlusswort.