«Bei Null kann man immer wieder neu anfangen»
KREUZLINGEN – Im Rahmen der Beschäftigung mit Werdegängen war Roland Dürr (RD), 48, der neue Geschäftsleiter der Pro Infirmis St.Gallen-Appenzell, zu Gast im Talent-Campus Bodensee. Der ehemalige SBWler (1989-1992) erzählte in einem Talk, wie er zu dem geworden ist, der er heute ist. Auszüge aus dem Gespräch mit Mark Riklin (MR).
Passion: Zwei Herzen vereint
(MR) Seit etwas mehr als 100 Tagen bist du Geschäftsleiter der Pro Infirmis St.Gallen-Appenzell, einer Non-Profit-Organisation, die Menschen mit Behinderung und deren Angehörige unterstützt. Wie fühlt sich die neue Stelle an?
(RD) Wie ein Sechser im Lotto, weil meine neue Stelle die beiden Herzen, die in mir schlagen, vereint: das Soziale und das Wirtschaftliche. In der neuen Rolle kann ich meine Leidenschaften und Stärken voll ausleben. Früh habe ich gelernt, mich gut zu organisieren, weitsichtig zu planen, für mich und für andere Verantwortung zu übernehmen. Als Pro-Infirmis-Geschäftsstellenleiter möchte ich mich dafür einsetzen, dass Menschen mit Behinderung dazugehören, ihnen Zugang zu Dienstleistungen, Bildung und Politik gewährt wird.
Resilienz: Schritt für Schritt
(MR) Als 15-Jähriger hat sich dein Leben von einem Moment auf den anderen schlagartig verändert. Nach einem Sprung ins Wasser bist du querschnittgelähmt wieder aufgetaucht. Wie hast du diesen Schicksalsschlag überwunden?
(RD) Geholfen haben mir neben Familie und Freunden meine positive Lebenseinstellung, mein Grundoptimismus, und wohl auch, dass ich ein Pragmatiker bin. Von Anfang an habe ich versucht, mir erreichbare Ziele zu setzen und diese beharrlich zu verfolgen: aus dem Bett in den Rollstuhl zu kommen, nach 11 Monaten in der Rehaklinik wieder nach Hause zu können, Schritt für Schritt fit und mobil zu werden. Dabei war wichtig, mir nichts vorzumachen, mir gegenüber ehrlich zu sein, was machbar ist und was nicht. Und nie aufzugeben. Mit einem Anwalt erkämpfte ich mir bis vor dem Bundesverwaltungsgericht das Recht, dass Menschen mit einer schweren körperlichen Einschränkung einen Autoumbau finanziert bekommen. So gehörte ich anfangs 20 zu den ersten Tetraplegikern der Schweiz, die selbständig Autofahren konnten.
Entrepreneurship: Alles auf eine Karte
(MR) Nur zwei Jahre nach deinem Unfall hast du mit drei Kollegen eine Wanderdisco gegründet erstmals deinen Unternehmer- und Gründergeist entdeckt. Wie ging es weiter?
(RD) Mit 17 Jahren habe ich mit einem «Börsenbrief» eine erste Firma gegründet. Schon immer war ich bereit, Risiken einzugehen und alles auf eine Karte zu setzen, bei Null kann man immer wieder neu anfangen, hat mich mein Leben gelehrt. Mit 31 Jahren habe ich mit meinem Bruder die MRD Racing AG gegründet, ein Unternehmen für Motorradzubehör und Rennverkleidungen. In Tschechien und in der Slowakei haben wir eigene Produktionsstätten aufgebaut, in Grossbritannien und in den USA eigene Produkte lanciert. Ich könnte 100 Sachen am Tag gründen, so viele Ideen schwirren mir durch den Kopf. Zum Glück bremst mich das Älterwerden ein bisschen.
Zukunfts-Träume: Ein Bundesrat mit Behinderung
(MR) «Wage, wovon du träumst» lautet das neue Leitmotiv der SBW. Wovon träumst du?
(RD) Für dich, für die Pro Infirmis, für die Gesellschaft? Roland Dürr: Bei mir muss es immer vorwärts gehen, ich möchte mich laufend weiterentwickeln, dazu lernen. Ich träume davon, dass Pro Infirmis nicht mehr «nur» als Behindertenorganisation wahrgenommen wird, sondern als Partnerin für die gesamte Gesellschaft. Zudem hoffe ich auf einen Bundesrat mit Behinderung. Dieser würde das Verständnis für Menschen mit Behinderung verbessern, wichtiges Vorbild sein und andere Berufe motivieren, sich mehr zuzutrauen.
Zeit an der SBW: Augen geöffnet
(MR) «Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn man alles vergessen hat», behauptete einst Werner Heisenberg. Wenn du an deine Zeit an der SBW (1989-1992) zurückdenkst, was wirst du nie vergessen?
(RD) Die SBW hat mir ermöglicht, mich nach meinem Unfall neu zu erfinden, den Fokus vom Körper auf den Geist zu verlagern und mich auf neue Stärken zu besinnen, von denen ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts gewusst hatte. Das 10. Schuljahr hat mir die Augen geöffnet, dass ich und wie ich lernen kann. Ich habe ein ganz neues Schulsystem kennengelernt, in dem neben dem Unterricht vor allem auch das soziale Leben und Lernen im Mittelpunkt stand. Dafür bin ich bis heute dankbar.
Roland Dürr Jahrgang 1972. Vater von Zwillingen. Seit 2021 Kantonaler Geschäftsleiter Pro Infirmis St.Gallen-Appenzell. Dipl. Sozialarbeiter. 2003-2018 Gründer, Inhaber und Geschäftsführer der Firma MRD Racing AG.
Mark Riklin