«Es geht auch ganz anders»
Gemeinsam mit drei Kolleg:innen machte Fabia Freienmuth nach dem 10. Schuljahr (1994/95) an der SBW eine 5-jährige Ausbildung als Lernberaterin (1995-2000) und arbeitete im Anschluss im Frauenfelder Lernhaus (2000-2005). Heute ist die zweifache Mutter Kommunikationsexpertin an der Polizeischule Ostschweiz. Ein Blick zurück.
Von Mark Riklin
Polizeischule Ostschweiz (PSO), Kirchstrasse 22c in Amriswil. Treppenstufen führen hinab in den Keller, wo sich der Darkroom befindet. «Hier findet das taktische Resilienztraining statt», sagt Kommunikationsexpertin Fabia Freienmuth (47) während einer Führung durch die gestaltete Umgebung der PSO. «Wenn das verbale Deeskalieren versagt und die klassischen Kommunikationsmittel ausgeschöpft sind, müssen angehende Polizist:innen auf Zwangsmittel (Pfefferspray, Schlagstock, Handschellen und Pistole) zurückgreifen können. Das Training wird durch einen einseitig transparenten, venezianischen Spiegel beobachtet und im anschliessenden De-Briefing analysiert. «Es ist wichtig, die eigene Reaktion in hoch eskalativen Situationen nicht erst im Ernstfall, sondern in einem geschützten Rahmen erlebt und reflektiert zu haben.»
Privates Lehrerseminar
Erstmals war Fabia Freienmuth in den Gebäuden der Polizeischule Ostschweiz vor 30 Jahren, als hier noch das Kindergärtnerinnenseminar beheimatet war. Im Rahmen des 10. Schuljahrs (1994/95) an der SBW Romanshorn hatte sie hier geschnuppert, sich dann aber für das Angebot der SBW entschieden, gemeinsam mit drei Kolleg:innen eine Ausbildung als Lernberaterin zu machen und parallel dazu die gymnasiale Matura nach dem Lehrkonzept der AKAD anzustreben. «Ich habe mich privilegiert gefühlt, ein privates Lehrerseminar machen zu dürfen», sagt Fabia im Rückblick. Während meine Kolleginnen am öffentlichen Semi im 3. Jahr erstmals vor einer Klasse standen, wurden wir von Angang an ins kalte Wasser geworfen. Learning by doing.
Das Lernhaus als Daheim
«Die SBW ist in diesen Jahren zu meinem Daheim geworden», strahlt Fabia. Nach schwierigen Schuljahren sei sie im 10. Schuljahr aufgeblüht, sei früher ins Lernhaus gekommen und später nach Hause gegangen. Während der Zeit als Lernberaterin habe sie schon fast im Lernhaus gelebt, zeitenweise auch im Lernberater-Zimmer auf dem Sofa übernachtet. «Die SBW ist meine Welt gewesen, auf die ich mich voll und ganz eingelassen habe.» Die Haltung von Peter Fratton, Claude Stucki und Christoph Bornhauser haben offensichtlich Spuren hinterlassen, bis heute: «Dass Kinder so sind, wie sie sind. Dass sie so werden, wie sie werden. Dass es unmöglich ist, Kinder zu erziehen, dass sie nur begleitet werden können. Und dass vieles auch ganz anders geht.»
Homeschooling-Pionierin
«Es geht auch ganz anders.» Dieses Credo nahm Fabia mit in ihr Leben, auch als zweifache Mutter. Als ihr Sohn Julius nach dem ersten Schultag sagte, «das ist nichts für mich», nahm sie ihn ernst und beantragte im Kanton Thurgau Homeschooling. Zu einem Zeitpunkt, als es dieses Wort im Thurgau noch gar nicht gab… «So etwas haben wir noch nie gehabt und so etwas wollen wir auch in Zukunft nicht, das gibt nur Ärger», hiess es auf dem Amt für Volksschule auch noch nach monatelangem Ringen. Als sie diesen Satz schriftlich haben wollte, bekam sie einen Tag später eine Bewilligung, als erste im Kanton. Emilia, die drei Jahre ältere Tochter, wechselte versuchsweise ebenfalls ins Homeschooling und konnte sich bereits nach drei Wochen nichts mehr anderes vorstellen, sie habe gar keine Zeit mehr für Schule, und wunderte sich, wie das wohl alle anderen Kinder machen würden…
Lernbausteine
Inzwischen hat Emilia (19) soeben ihre Berufsausbildung als Bekleidungsgestalterin abgeschlossen. Und Julius (15) wechselt diesen Sommer vom Homeschooling an die Futura des Talent-Campus Bodensee. Zwischen dem ersten und dem zweiten Schultag liegen 9 Jahre, rekordverdächtig. Auch Fabia ist schon immer ihre eigenen Wege gegangen. Hat in Kauf genommen, dass die Ausbildung als Lernberaterin bis heute nicht anerkannt ist. Ein Studium in Germanistik und Romanistik hatte sie abgebrochen und ihre Lernbausteine fortan selbst zusammengestellt. Weiterbildungen in der Kommunikation bei Befragungen und Verhandlungen, in der Körpersprache im interkulturellen Kontext, im Lesen von Menschen. Entscheidend sei das Vertrauen und die Überzeugung, dass es auch anders geht und der Weg im Gehen entstehen darf.
SBW-Nest an PSO
Wie es dazu gekommen sei, dass eine Frau aus dem linksgrünen Milieu an der Polizeischule Ostschweiz lande? Ganz einfach. Eines Tages suchte Marcus Kradolfer, seit 2010 Direktor der PSO, den sie noch aus ihrer Zeit im Frauenfelder Lernhaus (2000-2005) kannte, eine Lehrperson für das Fach Deutsch und meldete sich bei ihr. Und so begann sich Fabia für die Polizeiarbeit zu interessieren, ging in die Polizeikorps raus, untersuchte den Berufsalltag, begann sich weiterzubilden. Heute unterrichtet sie Angewandte Polizeipsychologie und Kommunikation, entwickelt die Didaktik der Ausbildung weiter, gemeinsam mit Eva Engeli, ebenfalls eine ehemalige SBWlerin. Und so weht auch ein bisschen SBW-Geist durch die Räume der Polizeischule Ostschweiz.
Lebensnahe Module
Realitätstraining nennt sich die Art des Unterrichts, die schweizweit einzigartig ist. «Tatort» ist eine Lernarena, die aus zwei komplett eingerichteten Wohnungen besteht, in deren Kulisse die Wirklichkeit realitätsnah inszeniert werden kann. Die Lernarena bietet eine geschützte Lernumgebung, in der Fehler gemacht werden dürfen. Fabia begleitet und unterstützt die Auszubildenden in ihrer Reflexion. Und träumt weiterhin davon, dass sich Bildung noch näher an der Realität orientiert und in lebensnahen Modulen angeboten wird. «Das Leben besteht nicht aus Fächern, sondern aus Herausforderungen», sagt Fabia. Und freut sich auf die nächste, persönliche Herausforderung: Im Sommer eröffnet sie in Frauenfeld ein eigenes Pilates-Studio, soeben hat sie sich im Handelsregister eingetragen.