Das Theater der verlorenen Gegenstände
Nach Abschluss des Bachelor of Arts in physical theatre an der Accademia Teatro Dimitri (Verscio) arbeitete Raphael Vuilleumier (33) in verschiedenen Kompanien als Schauspieler, Techniker und Lichtkonzepter. Inzwischen hat sich der ehemalige SBWler (Herisau, 2001-2004) selbständig gemacht und den «Verein für verlorene Gegenstände» gegründet.
Alte Kaserne Winterthur, anfangs Januar 2019. Hier nimmt das Theaterschaffen von Raphael Vuilleumier in Winterthur vor etwas mehr als zwei Jahren seinen Anfang, als er eines Abends auf der Suche nach einem Veranstaltungsort zufälligerweise mit dem Geschäftsleiter des «Theater am Gleis» in Kontakt kommt und in kurzer Zeit ein Netzwerk entsteht. Inzwischen produziert Raphael Vuilleumier unter dem Titel «Verein für verlorene Gegenstände» Theaterstücke. In Personalunion ist er verantwortlich für die künstlerische Leitung, Bühnenbild und Schauspiel.
Punkt Null
Was Raphael Vuilleumier am Theaterschaffen fasziniert, ist der Punkt Null. Von Null auf eine Welt zu erschaffen und im Zusammenspiel mit vielen Beteiligten auf die Bühne zu bringen. In einem positiven Sinn naiv und narrenfrei sein zu können. Dinge (wahr)zunehmen, als würde man ihnen zum ersten Mal begegnen. Und am Ende wieder alles abzubauen, bis der Raum wieder leer und doch nicht leer ist.
Seine Leidenschaft fürs Theater mit all seinen Facetten entsteht auf Umwegen. Als es am Konservatorium in Luzern nicht so richtig klappen will, führt ihn sein Weg an die Accademia Teatro Dimitri (Verscio), wo er alle Stufen des anspruchsvollen Auswahlverfahrens ohne Probleme übersteht. Bis er drei Monate vor Ende des ersten Ausbildungsjahres mit fünf anderen Studierenden auf Probezeit gesetzt wird, ein Schockmoment.
Das Messer am Hals
«Wir wollen dein Gesicht sehen, nicht die Fassade des guten Schülers. Einen jungen Mann, der etwas wagt, ausprobiert und Risiken eingeht. Wenn du nicht beginnst, Fehler zu machen, musst du gehen», lautet die unmissverständliche Forderung, die so ziemlich allem widerspricht, was am Konservatorium und den meisten anderen Bildungsanstalten bisher von ihm erwartet wurde. Entsprechend gross ist die Verunsicherung und der Druck, der die Forderung auslöst.
Das Messer am Hals, die Wut im Bauch, entscheidet sich Raphael Vuilleumier in einer Art Trotzreaktion, nur noch auf sich zu schauen, die vermeintlich letzten zwei Monate zu geniessen und möglichst viel zu profitieren. Nicht mehr gefallen und die Erwartungen anderer erfüllen zu wollen, wird zum Wendepunkt. Plötzlich findet er den Mut, in einem System, in dem laufend bewertet wird, sich selbst treu zu bleiben und sein eigenes Ding zu machen. Ein Hammer-Feedback der Lehrmeister ist der Lohn dafür.
Auffangbecken für verlorene Ideen
In seiner Abschlussarbeit beschäftigt sich Raphael Vuilleumier mit dem Autoren Michael Ende und dem Erzählen einer Geschichte auf der Bühne. Ein Zitat des Schriftstellers inspiriert ihn ganz besonders: «Er gibt sich selbst auf dem Fundbüro ab, setzt sich dort ins Regal. Ab und zu fragt er den Beamten, ob sich nicht ein Eigentümer gemeldet habe. Nach Jahr und Tag bekommt er sich selbst, da er ja der Finder ist.»
Bis heute ist Raphael Vuilleumier dem Thema treu geblieben. Zum einen mit der Gründung des «Verein für verlorene Gegenstände», der «als Auffangbecken für verlorene Ideen und Menschen kulturelle Impulse setzen möchte, die das Zusammenleben auf positive Art und Weise fördern». Zum anderen mit der aktuellen Recherche für das Stück «Der verlorene Mensch». Was noch fehlt, ist ein physischer Ort: ein Fundbüro, wo man sich verlieren darf und neu (er)finden kann. Mehr auf der Website www.verlorenegegenstaende.com
Text: Mark Riklin
Bild: David Schweizer
Referenz von Raphael Vuilleumier: Meine Zeit an der SBW
«Die SBW war für mich eine super Schule. Hier habe ich meine bis heute wichtigsten Freunde gefunden. Die SBW gab mir die Möglichkeit, einen Teil des Tages selbst zu strukturieren, Verantwortung zu übernehmen. Hier konnte ich meine ersten Projekterfahrungen machen. Eine gute Grundlage für meine heutige Tätigkeit als Theaterschaffender.»
Artikel in der Appenzeller Zeitung vom 22. März 2022