Im Altersheim einen Mann angeln
ARBON/WINTERTHUR – Als Ausgleich zur Arbeit als Geschäftsführerin des Gastrobetriebs «Presswerk» arbeitet Michèle Mehli (32) als Gesundheitsclown. Was die ehemalige SBWlerin (2003-2008) heute professionell anbietet, hat ihren Ursprung bereits in früher Kindheit. Eine Spurensuche.
Winterthur, am Rande der Altstadt. Im Alterszentrum Adlergarten entwickelt sich eine heitere Stimmung, als zwei junge Frauen in bunter Kleidung auf der Abteilung auftauchen, in einzelne Räume schielen und die Bewohner*innen aus ihren Zimmern locken. Mit einer Fischerrute möchte Mila heute einen Mann angeln. Noch ledig sei sie auf der Suche nach Männer-Bekanntschaften. Hier angle sie besser nach Fischen, schlaue Männer habe es hier keine, sagt eine betagte Frau und hängt einen gemalten Fisch an die Angel. Und schon sind die beiden Frauen mitten im Kontakt, ein Anfang ist gemacht.
«Der Narr und der Tod»
«Als Gesundheitsclowns sind wir geübt, mit Menschen in speziellen Lebenslagen auf unkonventionelle Art und Weise in Kontakt zu treten», sagt Mila alias Michèle Mehli (32), Mitglied des Vereins ProClowns, der Gesundheitsclowns an sozialpädagogische Einrichtungen und Gesundheitsinstitutionen vermittelt. Als Ausgleich zur Arbeit als Geschäftsführerin und Leiterin des Gastrobetriebs «Presswerk» in Arbon absolvierte sie an der Tamala Clown Akademie in Konstanz eine zweijährige Ausbildung zum Gesundheit!Clown (2018-2020), eine Persönlichkeitsbildung der humorvollen Art, die von den Regeln der Komik über Slapstick-Techniken bis zur Entwicklung einer eigenen Clownfigur reicht. Besonders geprägt habe sie die Blockwoche «Der Narr und der Tod», in der sie sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt und eine grosse Dankbarkeit für ihr Leben entwickelt habe.
«Kennen wir uns?»
Szenenwechsel, Rückblende ins Jahr 2000. Schauplatz ist ein Altersheim im Zürcher Kreis 3 in der Nähe des Triemlispitals. Ein kleines Mädchen (10) betritt mit einem am Strassenrand gepflückten Blumenstrauss das Altersheim, erkundigt sich beim Empfang nach jener Bewohnerin, die am wenigsten Besuch bekommt. Wenig später sitzt sie am Bettrand einer bettlägerigen Frau. «Kennen wir uns?», fragt sie das kleine Mädchen. Und beginnt ausschweifend aus ihrem Leben zu erzählen. Über den Krieg. Über ihren verstorbenen Mann. Das Mädchen sitzt einfach da, ohne viel zu sagen. Spannender als ein Buch, sei es gewesen, erinnert sie sich, die Besuchten seien ganz aus dem Häuschen gewesen und hätten sie kaum mehr gehen lassen.
Schultrauma
Was Michèle Mehli als Kind aus Intuition machte, macht sie heute professionell. Schon damals war alles da, was sie heute noch auszeichnet: ihre Kontaktfreudigkeit, Empathie und Lebensfreude. Diese Lebensfreude wäre ihr während der Schulzeit beinahe abhanden gekommen. Als fröhliches Kind mit Bewegungs- und Kontaktbedürfnis sei sie immer wieder als Störfaktor empfunden worden. Eine Schulkarriere lang sei sie ermahnt worden, ruhig zu sitzen, nicht so oft zu lachen, und mit «du störst» oder «du bist zu dumm» abgestempelt worden. Als sie in der 5. Klasse für eine Traumhaus-Zeichnung das Prädikat «zu surreal» und die Note 3 bekam, hatte sie mit dem Kapitel Schule innerlich abgeschlossen. Oft sass sie forthin vor der Türe oder wurde bereits mittags nach Hause geschickt. Auf Prüfungen schrieb sie nur noch ihren Namen, um möglichst schnell wieder gehen zu können.
Mit Herzblut und Charme
In der Berufslehre zur Restaurationsfachfrau kam der Wendepunkt. «Während meiner Ausbildung an der Academia Euregio Bodensee kamen meine berufs- und lebenspraktischen Qualitäten plötzlich zum Tragen», sagt Michèle Mehli, «ich realisierte, dass ich gar nicht so dumm war». Mit Herzblut und Charme begegnete sie ihren Gästen, versuchte sich in neuen Rollen als Sambuco-Butlerin, Handfönerin im Bahnhof Winterthur oder als Gastgeberin im Siesta-Hotel. In dieser Zeit sei sie richtiggehend aufgeblüht, das innere Kind habe wieder mehr Raum bekommen.
Clownakademikerin
«Seit zwei Jahren bin ich nun Clownakademikerin», sagt Michèle Mehli mit einem breiten Schmunzeln im Gesicht. «Als Gesundheitsclown darf ich heute all das machen, wofür ich in der Schule getadelt wurde», sagt sie. Ein Clown darf auch mal ausgelassen sein, darf Fehler machen, darf scheitern und immer wieder neu beginnen. Im Unterschied zum klassischen Clown steht beim Gesundheitsclown nicht der Clown, sondern der besuchte Mensch im Zentrum. Mit viel Einfühlungsvermögen soll er wahrgenommen, in kurzer Zeit erfasst und auf ihn eingegangen werden. Der Status des Clowns ermögliche eine Begegnung auf Augenhöhe, monotone Alltagsabläufe könnten durchbrochen, neue Sichtweisen ausgelöst und Selbstheilungskräfte aktiviert werden.
Potentialentfaltung
Michèle Mehli wünscht sich, dass Spitäler, Alters- und Pflegeheime als letzte Stationen im Leben von Menschen heitere Orte sein mögen, an denen nicht die Beschwerden, sondern die Gesundheit und die verbliebenen Möglichkeiten im Vordergrund stehen. Dasselbe wünscht sie sich für Schulen, in denen Kinder in ihren Bedürfnissen und Potentialen erkannt werden. Gerne würde sie eines Tages das Fach «Glück» unterrichten und Kindern Selbstkompetenzen vermitteln. Vielleicht an der SBW.
Mark Riklin, Presswerk Arbon, 21. Januar 2022