Ein Berufsleben lang hat sich Tschösi Olibet Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen oder in besonderen Lebenssituationen verschrieben: als Familienvater, Erzieher und Hausmann in einer Heilpädagogischen Grossfamilie (1982-93), als Teamleiter und Lernbegleiter am 10. Schuljahr der SBW Herisau (1996-2010), bei tipiti als sozialpädagogischer Begleiter unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender und Bereichsleiter «Begleitetes Wohnen» (2010-2019). Ein Gespräch über ausgewählte Stationen und Erinnerungen, kurz vor seinem 70. Geburtstag.
St.Gallen, 16. Juni 2010. Im Aufnahmestudio von video-artwork wird die neueste Ausgabe der SBW Rundschau aufgezeichnet. Nachrichtensprecher Walter Eggenberger, ehemaliger 10vor10-Moderator, vermeldet unter dem Titel «Aufbruch zu neuen Ufern» den Abgang von Urgestein Tschösi Olibet: «Der Co-Leiter und Mitentwickler der SBW Futura Herisau sucht nach 14 Jahren eine neue Herausforderung im Bereich Coaching. Glücklich schätzt sich, wer in Zukunft auf seine Dienste zählen kann», heisst es in der Kurzmeldung.
Tragfähige Beziehungen
Dieses Glück hatte der Verein tipiti, mit dem sich Tschösi seit 1982 verbunden fühlt. Gemeinsam mit seiner Frau Nora arbeitete er beim damaligen Verein für Heilpädagogische Pflegefamilien (VHPG) und führte neben ihren beiden leiblichen Kindern Peter und Eva fünf Pflegekinder in die Selbständigkeit. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2019 arbeitete Tschösi als Leiter der Abteilung «Begleitetes Wohnen» und als sozialpädagogischer Begleiter unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender. «Ob mit ein- oder mehrheimischen jungen Menschen, im Vordergrund stand der Aufbau tragfähiger Beziehungen, die auch Tiefpunkte und Enttäuschungen verkraften können», sagt Tschösi, der Beziehungsmensch, in einem Interview.
Ausgewählte Rückblenden
Trogen, 8. Juni 2024. 14 Jahre nach seinem Abschied von der SBW sitzen wir auf der Terrasse des «Sonnenhof», dem Trogner Doppelpalast am Landsgemeindeplatz, bis vor ein paar Jahren im Besitz der Bäcker- und Konditor-Familie Ruckstuhl. Tschösi und Nora Olibet haben hier im Parterre vor zwei Jahren eine schmucke Eigentumswohnung bezogen. Kennen- und schätzengelernt habe ich Tschösi 1998 an der SBW Herisau, seither sind wir uns immer wieder über den Weg gelaufen, nicht nur an der SBW. Aus Anlass des bevorstehenden 70. Geburtstags blicken wir bei einem Glas spanischen Weisswein zurück auf ausgewählte Stationen seines Berufslebens.
Probelektion in Romanshorn
Es war im Jahre 1996, als Tschösi, damals Reallehrer in Trogen, von einer Elterninitiative Wind bekam, die sich in Herisau einen Ableger der SBW Romanshorn wünschte. Dort, wo seine Tochter Eva und seine jüngste Pflegetochter Caroline das Weiterbildungsjahr besuchten. Tschösi bewarb sich sofort und nahm gar eine Probelektion im Mutterhaus in Kauf. Seine Motivation: im eigenen Kanton einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Schullandschaft leisten. Was in den nächsten zwei Jahrzehnten fast zu gut gelingen sollte, wurden doch die Innovationen im ganzen Kanton so fleissig kopiert und reproduziert, dass es die SBW Herisau eines Tages (2017) nicht mehr brauchen sollte: Ziel übertroffen, Funktion als Innovationstreiber mehr als erfüllt.
Erfolgsmodell
Gemeinsam mit Stefan Gander, dem Gründer und Lernhausleiter der SBW Herisau, entwickelte er das neue Lernhaus stetig weiter. Was im Nelo-Gebäude an der Bahnhofsstrasse mit einer ersten Oberstufe und einem 10. Schuljahr begann, wurde jeden Sommer erweitert, neue Räume wurden dazu gemietet, Wände rausgerissen und wieder eingebaut. Laufend wurde die gestaltete Umgebung den neuen Ideen und Bedürfnissen angepasst. Dass ein Lern- auch ein Sozialraum sein kann, zu dem Lernpartner:innen Tag und Nacht freien Zugang haben, hatte sich schnell rumgesprochen. Eine Durchlässigkeit im engeren und weiteren Sinne, die seinesgleichen suchte. Es knisterte in Herisau, das Lernhaus boomte und platzte bald aus allen Nähten, ein Erfolgsmodell.
Tête-â-tête im Fischerhüsli
Eine Umgebung und Dynamik, die Tschösi’s Neugier und Gestaltungslust voll und ganz entsprach. Im Ende eines Weiterbildungsjahres lag immer schon der neue Anfang, der nächste Versuch. Ein besonderes Herzensanliegen waren Tschösi die Jungunternehmen, die jeweils im 2. Semester gegründet wurden, sozusagen ein Vorläufer des Future Skills «Entrepreneurship»: Jugendliche des 9. und 10. Schuljahres sollten anschaulich und praktisch erleben, wie marktwirtschaftliche Regeln und Gesetze entstehen, funktionieren und wie mit diesen kreativ umgegangen werden kann. Eine ideale Gelegenheit für Lernbegleiter:innen, eigene Leidenschaften auszuleben. So gründete Tschösi beispielsweise eine FesTAG, die sich zur Aufgabe machte, für Privatpersonen oder Firmen stilvolle Anlässe an besonderen Locations zu organisieren und durchzuführen, vom Kindergeburtstag übers Mini-Openair bis zum Tête-â-tête im Fischerhüsli am St.Galler Wenigerweiher.
Aktienkapital & Gewinnausschüttung
«Es machte mir grosse Freude, eine Idee zu kreieren, ohne sie fertig zu denken», sagt Tschösi Olibet. Nur der Rahmen sollte gebaut werden, innerhalb dessen potentielle Mitarbeitende genügend Spielraum vorfinden sollten, ihre eigenen Fantasien einzubringen. Als erstes suchte sich Tschösi einen stellvertretenden Geschäftsführer, mit dem er in einem zweiten Schritt ein schlagkräftiges Team zusammenstellte. Im Falle der FesTAG waren 22 Stellen in den Bereichen Werbung & Akquisition, Küche & Produktion, Service & Dienstleistung mit je einer Bereichsleitung zu vergeben. Zudem wurden nummerierte Wertschriften aufgelegt, 50 Aktien im Wert von CHF 20. Ein allfälliger Gewinn wurde nach einem vorgegebenen Schlüssel verteilt: 30% als Gewinnausschüttung an Aktionäre, 60% als Lohn an die Mitarbeitenden und 10% als Boni an die Unternehmens- und Bereichsleitungen.
«Easy Rider» in der Chälbihalle
Die Idee und Umsetzung der Jungunternehmen fand aufgrund des Modellcharakters immer wieder seinen Niederschlag in der Tagespresse. Ein Artikel aus dem Archiv der Appenzeller Zeitung, datiert mit dem 1. Juni 1999, beschreibt eine Unternehmensidee, die Tschösi’s Handschrift trägt: Die «Herisauer Kinotage» sollen endlich wieder Filme ins verwaiste Kino bringen. «Nur noch wenige Tage bleiben bis zur Premiere», heisst es in der Vorschau, «und noch wichtige Details sind ungeklärt: Wieviele Tickets sollen gedruckt, wie der Abfall entsorgt und wie weitere Sponsoren gefunden werden? Noch ist das Budget unausgeglichen. Die fixen Investitionskosten, die vor der ersten Vorführung durch Verwaltung und Werbung entstehen, belaufen sich auf rund 1000 Franken.» Ein ideales Lernsetting, um Verantwortung zu übernehmen und den Realitätssinn zu schärfen.
Katalanische Wurzeln
Ob Kinotage mit Barbetrieb, FesTAG oder PicknickAG: Tschösi’s Leidenschaft für gastronomische Felder zieht sich wie ein roter Faden durch seine Projekte. «Offensichtlich brauchte ich immer wieder ein Vehikel, um im Gastrobereich tätig sein zu können», schmunzelt Tschösi. Kein Wunder, wenn man sich Tschösi’s familiäre Herkunft vergegenwärtigt, die in Llers, einer katalanischen Gemeinde in der Provinz Girona im Nordosten Spaniens, wurzelt. Jaime José Pedro Olivet wanderte 1879 in die Schweiz aus, am 15. April desselben Jahres erhielt ein gewisser Jakob Olivet vom Regierungsrat des Kantons Appenzell Ausserrhoden die Niederlassungsbewilligung in Herisau, einen Monat später die Bewilligung zur Führung einer Reif-Wirtschaft im Spittel. Ab 1884 führte er in Rheineck die «Spanische Weinhalle», sein Grossvater eine Weinkellerei und das «Restaurant zur Weinburg».
Rettung der Krone
1952 riss dieser Faden mit dem Verkauf der «Weinburg». Bewusst oder unbewusst nahm Tschösi diesen Faden früherer Generationen immer wieder auf. 1989 machte er das Wirtepatent, das er 2023 voller Stolz einreichte, als es in Trogen darum ging, das historische Gasthaus KRONE mit einer privaten Gruppe zu retten, kurz bevor es rechtsradikalen Reichsbürgern in die Hände fiel... «So, wie vor zwei Jahrzehnten die RAB-Bar erschaffen wurde, machten wir das auch mit der Krone, nämlich in Fronarbeit», sagt Tschösi. Die ehrenamtliche Betriebsgruppe besteht aus 40 Leuten, die das Bistro seit bald einem Jahr an fünf Tagen pro Woche offenhalten. Tschösi übernimmt Schichten, macht Hauswartsarbeiten, koordiniert Handwerkereinsätze, vertritt die Bistrogruppe im Vorstand und ist der aktuelle KRONE Wirt.
Die Stammhalter
Seit fünf Jahren nutzt Tschösi nun die Freiheiten seiner Pension für seine sechs Grosskinder und ehrenamtliche Engagements überall dort, wo seine vielfältigen Erfahrungen gefragt sind. So lebten zwei junge, geflüchtete Afghanen während einem Jahr bei Nora und ihm. Seit 2021 setzt er sich als Mitglied der Einbürgerungskommission für faire Verfahren ein. Und wird immer wieder mit der Geschichte seiner Vorfahren konfrontiert. Wie war das wohl, als sich der eigene Grossvater einbürgern liess und sich so stark assimilierte, dass ein grosser Teil der eigenen Sprache und Kultur verloren ging? Inzwischen sind Tschösi und sein Bruder die einzigen Stammhalter, seine Schwestern haben den Namen weggegeben. «Wir, unsere Kinder und Enkelkinder sind die einzigen Olibet in der Schweiz», sagt Tschösi mit einem Strahlen im Gesicht. Eine Exklusivität, die Identität schafft und Stolz macht.
Ein Bär von einem Freund
«Tschösi hat seine Umgebung durch Handeln und Vormachen gestaltet. Gleichzeitig war er ein Vorreiter, der Impulse aus der Gesellschaft aufnahm, bevor sie zum Trend wurden. So hat er auf die allererste Anfrage einer Familie, ob es möglich sei, der Tochter mehr Schulzeit für das Eislauf-Training zur Verfügung zu stellen, die Idee einer individuellen Talentschule (1998) entwickelt, lange bevor sie an der Gesamt-SBW und öffentlichen Schulen Einzug hielt. Tschösi ist ein Bühnenbauer für andere, auf allen Ebenen. Ein beharrlicher Beziehungspfleger. Und ein Bär von einem Freund.»
Stefan Gander, Freund und Wegbegleiter bei der SBW und bei tipiti
Wegbegleiter:innen
«All das konnte ich nur machen, weil ich immer wieder auf Menschen traf, die mich ermunterten, unterstützten, wohlwollend begleiteten, an mich glaubten, mich prägten. Allen voran Nora, seit mehr als 50 Jahren, seit der 3. Sek in Rheineck, damals noch Karin Käppeli. Als junger Primarlehrer traf ich auf den erfahrenen Oberstufenlehrer Walter Gabathuler, als professioneller Pflegevater auf Rolf Widmer und sein Grossfamilienteam, als Lernbegleiter an der SBW auf Peter Fratton und Stefan Gander, als tipiti Bereichsleiter wiederum auf Stefan Gander und Rolf Widmer und wurde unterstützt durch ein grosses engagiertes Mitarbeiter:innen-Team. Das KRONE-Projekt wäre ohne Nora, Silvia, Lucia, Katrin, Andrea, Marc, Dominic und ganz viele andere nicht möglich gewesen. Dafür gebührt allen ein grosses DANKE!»