Ein Plädoyer für den Gemeinsinn


Unsere Welt braucht Changemakers: Kinder und Jugendliche, die mutig vorangehen, Ideen entwickeln, Lösungs­ansätze testen und selber umsetzen. Die «Agentur für nachhaltige Zukunftsideen» bietet als schulisches Service-Learning-Projekt einen Rahmen, in dem Kinder und Jugendliche erste Erfahrungen machen können. Mit Taten statt mit Worten. Dank agilem Projekt­management (EduScrum ) übernehmen Schüler*innen die Verantwortung für ihre Projekte, sind eigenständig unterwegs und erleben Selbstwirksamkeit.

Benevolpark St.Gallen. Im Rahmen der SBW Future Skills Konferenz 2023 zitiert Regula Immler, Leiterin der Future Skills Ausbildung am Talent-Campus Zürichsee, in ihrem Plädoyer für Gruppen­projekte die GDI-Studie «Future Skills – Vier Szenarien für morgen und was man dafür können muss» aus dem Jahr 2020. Um die Zukunft zu gestalten, brauche es neue Ideen, die man als Gemeinschaft umsetze. «Kleine Gemein­schaften, die neue Ideen ausprobieren und voneinander lernen können, sind der Weg zu einer resilienten Gesellschaft. Durch selbstgewählte praktische Gruppenprojekte können Kinder und Jugendliche Fähigkeiten sammeln, um innerhalb kleiner Gemeinschaften solche Experimente zu wagen.», sind die Autoren der GDI-Studie überzeugt.

Gemeinsinn entwickeln

Future Skills sollen also nicht nur ermöglichen, flexibel auf mögliche Zukünfte reagieren zu können, sondern die Zukunft aktiv mitzugestalten. «Der gesell­schaftliche Gestaltungs­spielraum wird im Westen kaum wahrgenommen, da wir die Zukunft spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges privatisiert haben: Aus gesell­schaftlichen Zielen wurden persönliche Ambitionen.», schreiben die Autoren der GDI-Studie. Schlussfolgerung daraus: Nicht nur das personalisierte Lernen soll betont, sondern auch das soziale, kollaborative Arbeiten, neben dem Eigensinn auch den Gemeinsinn entwickelt werden. Nur so können die anstehenden Heraus­forderungen als Gesellschaft gemeistert werden. (vgl. Box)

Service Learning

«Hier setzt die Idee des Service Learnings an», sagt Regula Immler, Vorstands­mitglied im Verein Service-Learning Schweiz. Service Learning (englisch für Lernen durch Engagement) ist ein Unterrichtsansatz, der gesell­schaftliches Engagement (Service) mit fachlichem, methodischem und sozialem Lernen (Learning) verbindet. Kinder und Jugendliche trainieren so soziale und demokratische Kompetenzen und machen dabei die Erfahrung, dass es sich lohnt, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Wer früh die Erfahrung macht, dass das Engagement für Andere Spass und zufrieden macht, wird diesen Faden im Laufe des Lebens wieder aufnehmen, so die Hoffnung der Vertreter*innen von Service-Learning Schweiz.

Agentur für nachhaltige Zukunftsideen

Ein konkretes Beispiel für ein Service-Learning-Projekt ist die «Agentur für nachhaltige Zukunftsideen», die 2016 an der SBW Secundaria Häggenschwil entstand, inspiriert vom Dokumentarfilm «Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen» (2015), und seit dem Sommer 2022 am Talent-Campus Zürichsee weitergeführt wird. Unter dem Motto „Taten statt Worte“ entdecken Jugendliche als Future Scouts innovative Lösungen, stellen als Helping Hands ihre Arbeitskraft zur Verfügung oder lancieren als Change Makers kleine Projekte und Interventionen wie beispielsweise einen Reparatur-Service, einen Adhoc-Kleidertausch, eine Solar-Ladestation fürs Lernatelier, ein Insektenhotel, ein Paletten-Garten-Sofa, einen Podcast über nachhaltige Projekte rund um Rapperswil oder die Herstellung verpackungs­freier Shampoos, gemeinsam mit Geflüchteten aus der Ukraine.

Scrumboard

«Service Learning erfordert eine möglichst nieder­schwellige, unbürokratische Prozess­methode, die innerhalb eines klaren Rahmens maximale Freiheit bietet», sagt Regula Immler. Eduscrum erfülle diese Kriterien in hohem Masse: Aufträge werden in kleinere Tasks aufgesplittet und Teammitgliedern zugeordnet. Auf einem analogen Scrumboard ist für alle Beteiligten jederzeit transparent, welche Tasks in der Spalte «to do», «doing» oder «done» zwischengelagert sind. In der «Definition of Doing» und der «Definition of Fun» werden Spielregeln festgelegt, wie die Zusammen­arbeit produktiv organisiert werden kann und gleichzeitig möglichst viel Spass macht.

Ownership

Das Geheimnis der agilen Prozess­methode «eduScrum» liegt darin, dass die Lehrperson das WARUM (Sinn & Zweck des Auftrags) und das WAS (Ziele, Rahmen­bedingungen, Qualitäts­kriterien) definiert, die Verantwortung für das WIE (Vorgehen, Lernprozess) hingegen an die Lernenden abgibt, den Weg zum Ziel also offen lässt, was sich auf die intrinsische Motivation meist positiv auswirkt. Das nennt sich «Ownership» (Eignerschaft): Innerhalb eines festgelegten Rahmens die Aufgaben­schritte selber planen und bestimmen können.

Service Citoyen

Auch auf politischer Ebene sind Bestrebungen im Gange, zivilgesell­schaftliches Engagement zu fördern. Die eidgenössische Volksinitiative für eine engagierte Schweiz (Service Citoyen-Initiative ) fordert, dass jeder junge Mensch in der Schweiz als Teil der Grundaus­bildung einen sinnvollen und zeitgemässen Einsatz zugunsten der Gemeinschaft und der Umwelt leistet, sei dies als Rettungss­anitäterin in der Armee, beim Pflegen von sturm­geschädigten Wäldern im Zivilschutz oder bei der Arbeit mit sucht­gefährdeten Jugendlichen im Zivildienst.

Gelebte Solidarität

Der Service Citoyen schafft geschützten, für alle zugänglichen Raum für sinnvolles Engagement. Durch gemeinsames Engagement treten junge Menschen in der Schweiz schon früh miteinander in konstruktiven Dialog, entdecken geteilte Werte (wieder), finden gemeinsame Lösungen und wachsen zusammen. «Gemeinsames Engagement führt zu gelebter Solidarität. Das wirkt depolarisierend, fördert den Zusam­menhalt, bringt uns als Gesellschaft nachhaltig vorwärts und schafft neues Vertrauen in unsere Demokratie», schreiben die Initianten.

 


Kooperation statt Wettbewerb

Eine neue Studie der Korea University, die unlängst im «Journal of Happiness Studies» veröffentlicht wurde, kommt zum Schluss, dass Jugendliche zufriedener sind, wenn sie häufiger und intensiver zusammen­arbeiten. «Wenn wir ein gemeinsames Ziel hatten, waren bei uns in der Schule viele viel motivierter und wollten zusammen einen Erfolg verbuchen», sagt eine ehemalige Gymnasiastin in einem SRF-Beitrag . «Wenn es aber darum ging, alleine eine Prüfung zu schreiben, hat dies das Konkurrenz­denken untereinander gefördert.» Lena Bühler, Präsidentin der Schweizerischen Arbeits­gemeinschaft der Jugend­verbände, kann die Ergebnisse der Studie nachvollziehen. Bühler findet, ein Problem gemeinsam anzugehen und an einer Lösung zu arbeiten, sei gerade in der heutigen Zeit eine wichtige Kompetenz. «Denn es gibt verschiedene globale Krisen, die wir nur durch Kooperation angehen können. Das könnten wir in der Schule noch viel mehr ausbauen.»